Im Zeichen der vier „Ks“

Im Zeichen der vier „Ks“
Die ökumenische Gemeinschaft Wethen will den Frieden Gottes im Alltag leben

aus: DOM, Nr. 20, 19. Mai 2002, von Markus Jonas


Ortsschild Wethen – jetzt heißt es aufpassen: Wo ist die Mittelstraße? Jedenfalls nicht in der Mitte des Ortes. Dort gibt es nur eine Straße, und über die hat man nach einer halben Minute Wethen auch schon wieder verlassen.

Also nochmal zurück. Die einzige Querstraße links ab, da das Schild „Mittelstraße“, links ab. Erinnerungen an die Straßen der alten DDR werden wach. Da ist die Hausnummer 4, der Laurentiushof. Ziel erreicht.

„Hier wird eine neue Kanalisation verlegt“, entschuldigt sich Reinhard Voß mit Blick auf die Schotterstraße vor der Hofeinfahrt. In dem kleinen, abgelegenen Ort in Hessen, nur einen Kilometer von der nordrhein-westfälischen Landesgrenze entfernt, hat sich eine ökumenische Gemeinschaft mit rund 50 Mitgliedern niedergelassen. Reinhard Voß ist 1986 aus dem Sauerland hierher gezogen, hat die Geschäftsstelle der „Ökumenischen Initiative Eine Welt“ geleitet und das „Schalomdiakonat“ gegründet. Wethen wurde in dieser Zeit zu einem Zentrum für friedensbewegte Christen. Inzwischen ist Voß Generalsekretär von Pax Christi in Deutschland.

Kern der ökumenischen Gemeinschaft in Wethen ist der Laurentiuskonvent, ein eingetragener Verein, der 1959 von evangelischen Christen gegründet wurde als „eine Form konkreter Gemeinde Jesu Christi“, wie es in der Satzung heißt. Als solche will man Menschen vereinen, die bereit sind, „in verbindlicher und ganzheitlicher Weise miteinander zu leben.“ Wichtiges Stichwort für den Konvent ist dabei „Schalom“. Den Frieden Gottes ganz konkret im Alltag leben – das wünschten sich die Christen des Laurentiuskonvents und beschlossen 1974, „Kundschafter“ durch ganz Deutschland zu schicken, auf der Suche nach einem Platz für die „Schalomstadt“. Schneller als erwartet wurde man – ausgerechnet an Pfingsten – fündig: Auf den Tipp einer katholischen Ordensschwester aus dem Warburger Stadtteil Germete hin besuchten die Kundschafter in dem kleinen, ihnen völlig unbekannten Dörfchen Wethen einen leer stehenden Bauernhof. Als die „Herrnhuter Losung“, ein Büchlein mit Bibelversen für jeden Tag, für diesen Tag auch noch die Verheißung enthielt: „Ich will Schalom geben an dieser Stätte, spricht der Herr“, war die Suche nach kürzester Zeit beendet.

So berichtet Wolfgang Kelm, evangelischer Pfarrer und Gründungsmitglied des „Projektes Wethen“. Er sitzt entspannt im Wohnzimmer einer der Laurentius-Wohngemeinschaften. „Wir ahnten wenig vom Leben des Dorfes und von der nahen Konfessionsgrenze.“ Während Wethen überwiegend evangelisch geprägt ist, ist das einen Kilometer entfernte Germete katholisch. Als der Berliner Pfarrer Kelm feststellte, dass Wethen keinen Pfarrer mehr hatte, erklärte er sich gleich bereit, als „Nachbarschaftspfarrer“ mit einer halben Stelle im Dorf auszuhelfen. Als solcher musste er auch schon mal bei einer katholischen Beerdigung „einspringen“, weil der zuständige Pfarrer bei winterlichen Straßen nicht rechtzeitig da sein konnte. Durch Pfarrer Kelm, der nicht im Pfarrhaus, sondern auf dem Laurentius-Hof wohnte, wurden die Wethener schnell neugierig auf die ökumenische Gemeinschaft.

„Im Dorf gab es zunächst Misstrauen gegenüber uns“, erzählt Paulander Hausmann, der mit seiner Frau Ragnhild und seinen drei Kindern zu den Gründungsmitgliedern der Gemeinschaft gehört. Also lud man alle zur Einweihung ein. „Von 500 Wethenern sind 800 gekommen“, schmunzelt Hausmann. „Die haben sich alles vom Keller bis zum Dachboden angeschaut, haben gesehen ‘Hier geht es ordentlich zu’ und waren zufrieden.“ Die Gemeinschaft war bemüht, sich auch weiterhin ins Dorfleben zu integrieren, hat aber „die Bedeutung von Dorffesten und Dorfkneipe unterschätzt“, bedauert Hausmann. Der Jurist aus Rotterdam, der nicht zum Arbeiten nach Kassel pendeln wollte, tauschte den Gerichtssaal gegen die Frotteeschneiderei des Dorfes. Zehn Jahre lang schneiderte er Bademäntel. „Ich stand deshalb immer für die Belange der Gemeinschaft zur Verfügung“, erklärt Hausmann. Als die Geschäftsstelle der „Ökumenischen Initiative Eine Welt“ 1986 ihren Sitz auf den Laurentiushof verlegte, betätigte sich Hausmann dort als Koordinator.

Die Geschäftsstelle der „Christen in der Friedensbewegung“ löste eine zweite „Einwanderungswelle“ nach Wethen aus. Jetzt schlug die Stunde der Katholiken. Neben Reinhard Voß zog es auch Bernhard Grafe von Hattingen ins Hessische. Der 53-jährige Theologe ist „mit dem Konzil groß geworden“ und sehnte sich nach einem kommunitären Umfeld. Die katholische Kirche habe er „im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung immer als Kirche des Aufbruchs und der Bewegung erlebt“, erzählt Grafe.

In Wethen läutete er eine neue Entwicklung ein. Er zog nicht direkt in die Gemeinschaft, sondern kaufte ein Haus in der Nachbarschaft. Diesem Beispiel folgten in den nächsten Jahren auch einige langjährige Mitglieder – für die Hausgemeinschaft, die noch von der WG-Ideologie der 70-er Jahre geprägt war, ein schmerzlicher Prozesss.

„Irgendwann haben wir gemerkt, dass es zu eng wurde und sind auseinander gerückt“, erklärt Reinhard Voß. Vor allem Ehepaare, deren Kinder „flügge“ wurden, seien ausgezogen. Diese „Abstufungen“ innerhalb der Gemeinschaft seien aber inzwischen von allen akzeptiert.

Die ursprünglichen „vier Ks“ der Gründungsgemeinschaft – gemeinsame Küche, Kasse, Kapelle und Konsens – gelten jetzt nur noch eingeschränkt. Eine gemeinsame Küche pflegen noch zwei Wohngemeinschaften mit jeweils etwa zehn Mitgliedern. Die Kapelle, ein gemeinsamer „Stillraum“ ist Zentrum der Gemeinschaft geblieben. Dort trifft man sich jeden Abend zum gemeinsamen Gebet. Aus der gemeinsamen Kasse werden in den Hausgemeinschaften aber nur noch die Lebensmittel gekauft, die Einkommensgemeinschaft gibt es nicht mehr.

Im größeren Rahmen ist sie aber nach wie vor präsent: Einige Mitglieder bilden den Laurentiuskonvent, der als Kreditnehmer gegenüber den Banken auftritt. Die jeweiligen Bewohner zahlen an den Konvent Miete, so dass manche Mitglieder Vermieter und Mieter zugleich sind. Die Hausgemeinschaften sind also quasi Eigentümer, der Einzelne baut aber kein Privateigentum auf.

Das vierte „K“, der Konsens, wird hingegen nach wie vor „offensiv“ gesucht, so Paulander Hausmann. „Unser Ziel ist, dass es keinen Verlierer gibt. Das dauert manchmal lange, aber ist besser, als den gordischen Knoten zu durchtrennen.“ Entscheidungen werden nicht „von oben durchgedrückt“, sondern ausdiskutiert. Dass es da immer wieder mal zum Konflikt kommt, ist klar. „Wir lieben Konflikte, weil nichts schöner ist als die Versöhnung“, schmunzelt Hausmann unter dem Gelächter einiger Mitglieder der Gemeinschaft.

In trauter Runde sitzen sie zusammen und tauschen Erinnerungen aus. Schwester Myriam erzählt, wie sie es in ihrem Kloster in der Schweiz nicht mehr aushielt, weil sie 20 Jahre lang die Jüngste war. „Ich wurde von der Überalterung erdrückt“, sagt sie. Ein neues Zuhause hat die Salesianerschwester in Wethen gefunden, wo sie erlebt – „obwohl hier niemand Franz von Sales kennt“ -, was in der salesianischen Spiritualität wichtig ist: „Frohes Gottvertrauen und eine liebevolle Aufmerksamkeit füreinander.“ Als Salesianerin lebt sie auch in der ökumenischen Gemeinschaft. Und ist dem evangelischen Pfarrer Kelm „der katholische Stachel im Fleische“, lacht er. „Ich würde sonst nicht so viel wissen über Salesianer und andere katholische Themen.“ Unterdessen hat sich die zweijährige Carla auf dem Schoß von Pfarrer Wolfgang Kelm gemütlich gemacht und ist eingeschlafen. „Das Leben hier ist sehr bereichernd“, sagt er lächelnd. „Als Eheloser kann ich hier Kinder haben“.

Das älteste Mitglied der Gemeinschaft ist 96 Jahre alt. Dinah Hausmann, die Mutter von Paulander, kam vor fast zehn Jahren aus Berlin nach Wethen. Sie hat es nicht bereut, sich als „alter Baum“ nochmal verpflanzen zu lassen. „Ich bin sehr glücklich hier“, sagt sie. Als „Großmutter der Gemeinschaft“ fühle sie sich. Besonders genießt sie die vielfältigen Möglichkeiten innerhalb der Gemeinschaft und des Dorfes. Hier könne sie ihre Selbständigkeit so lange wie möglich wahren. „Nicht viele haben in meinem Alter solch ein zufriedenes Leben, sagt die 96-Jährige nachdenklich.