Zum Beten ins Backhaus

„Unsere Kirche“, das Evangelische Sonntagsblatt für Westfalen und Lippe, stellte in der Ausgabe vom 27. März 1977 die Wethener Wohngemeinschaft des Laurentiuskonvents vor. Hier der Text von Udo Waschelitz:

Zum Beten ins Backhaus
Vielleicht war es auch ein bißchen Stadtflucht, was Menschen aus Berlin und Rotterdam, aus Oldenburg, Bonn und Mainz bewegte, in das 500-Seelen-Bauerndorf zwischen der hessischen evangelischen Bischofsstadt Kassel und dem westfälischen katholischen Bischofssitz Paderborn zu ziehen, gilt Wethen doch als „ruhiger, der Erholung dienender Ort“, wie dem Hausprospekt einer dortigen Pension zu entnehmen ist. Darin steht auch: „Das Erlebnis einer dörflichen Stille und Friedlichkeit in der guten Landschaft ist der Wunsch vieler Großstädter“.

Die Wahl des Ortes wurde bestimmt durch die Nachbarschaft zu den katholischen Serviam-Schwestern im drei Kilometer entfernten Germete, mit denen schon bestehender Kontakt vertieft werden sollte. Das gemeinsame Bemühen, ihr Leben neu zu gestalten, führte die 17 Personen – zwei Familien mit zusammen sieben Kindern, zwei kinderlose Ehepaare und zwei Alleinstehende -, die sich vorher nur zum Teil kannten, unter ein Dach. „Als einzelner auf so eine Dorf verschlagen zu werden“, gibt einer aus der Großfamilie zu bedenken, „das ist eine Vorstellung, die bei mir mehr Furcht als Begeisterung auslöst“.

Bei dem Stichwort „Großfamilie“ geht es vielen ebenso. Die Leute auf dem Laurentiushof bilden eine Wohngemeinschaft, und das ist ein sehr differenziertes Gebilde: Jede Familie, jedes Ehepaar, jeder Alleinstehende hat eine eigene, komplett eingerichtete Wohnung. Das alte Bauernhaus ist mit viel Mühe und Phantasie, überwiegend in Eigenarbeit, umgebaut, renoviert, mit Zentralheizung ausgestattet worden. Auf den ersten Blick ist also nichts Besonderes daran: Jeder wohnt für sich. Doch vieles wird gemeinsam organisiert, und manches davon erscheint so selbstverständlich, daß man sich fragt, warum es nicht auch in ganz normalen Miethäusern praktiziert wird.

Wohngemeinschaften bieten keinen Stoff mehr für Sensationsgeschichten, sondern sind Anlaß zum ernsthaften Nachdenken über die Möglichkeiten, überkommene bürgerliche Lebensformen – jede Kleinfamilie lebt mehr oder weniger isoliert für sich – durch einen neuen, vielleicht menschlicheren Lebensstil zu ersetzen. An der Suche und der Erprobung solcher Modelle sind auch Christen, christliche Gruppen verschiedenster Prägung beteiligt. Zu allen Zeiten haben Orden und Kommunitäten Modelle gemeinsamen Lebens entwickelt, darunter – seit seiner Gründung im Jahre 1959 – auch der Laurentiuskonvent. Er „sammelt Christen, die bereit sind, Formen verbindlichen gemeinsamen Lebens und Dienens im Geist des Evangeliums Christi zu erproben und dadurch zur Erneuerung der Kirche und zur Veränderung der Welt beizutragen“.

Jüngstes „Kind“ des 39 Mitglieder starken Konvents ist die „Hausgemeinschaft Laurentiushof“ im nordhessischen Dorf Diemelstadt-Wethen. „Als der Laurentiuskonvent am Palmsonntag 1974 den Beschluß faßte, Möglichkeiten für ein neues Projekt zu erforschen für eine weitere Niederlassung neben den in Berlin und Römlinghoven bei Bonn bestehenden, wußte keiner von uns, daß es in Nordhessen ein Dorf namens Wethen gab“, erinnert sich einer der Konventsmitglieder und Neu-Wethner, Wolfgang Kelm. Bereits ein Jahr später, in der Passionszeit 1975 zogen die ersten in das angekaufte alte Bauernhaus; wiederum ein Jahr später, am Gründonnerstag 1976, versammelte sich die inzwischen komplette Wohngemeinschaft, gemeinsam mit der ersten Gästegruppe, die im soeben gemieteten Gästehaus – ebenfalls in einem alten Bauernhaus – Quartier genommen hatte, zum erstenmal im ehemaligen Schafstall, um diesen Tag zu bedenken und später gemeinsam Ostern zu feiern.

Bereits diese Angaben deuten an, wie rasant die Entwicklung in Wethen war. Da ist Leben, Dynamik, und es ist schwierig, mit einer Momentaufnahme ein Bild von dieser Gemeinschaft wiederzugeben. Was Wolfgang Kelm 1973 nach acht Jahren eigenen Erlebens in einem Artikel über die Wohngemeinschaft des Laurentiuskonvents auf dem Malteserhof bei Bonn einleitend schrieb, gilt für diesen Bericht über Wethen erst recht:

„Wohn- und Lebensgemeinschaften kann man wohl nur kennenlernen, indem man ihr Leben teil, nicht, indem man ein paar Seiten über sie liest. Wenn hier dennoch ein Bericht versucht wird, dann mit diesem ausdrücklichen Vorbehalt.“

Es ist eine einfache Rechnung: Wer sich mit anderen ein Haus teilt, bezahlt weniger Miete. Die Kosten für Waschmaschine, Küche, Telefon und vieles andere können geteilt werden. Die Wethener Wohngemeinschaft teilt dazu auch ihr Einkommen. Für die persönlichen Bedürfnisse wie Kleidung, Privat- oder Ferienreisen, Kinobesuche, Spielzeug, Privatliteratur und Schallplatten erhält jeder Erwachsene monatlich 200 Mark, jedes Kind 100 Mark. Einer vierköpfigen Familie stehen also 600 Mark zur Verfügung, einem Ledigen 200 Mark. Das gilt für den Oberarzt wie für die Optikermeisterin, für den Lehrer wie für die Lohnbuchhalterin, für den Juristen wie für den Theologen, für die Hausfrau und den Studenten. Alle übrigen Ausgaben wie 3000 Mark „Miete“ als Darlehnstilgung, Autokosten (fast alle müssen etliche Kilometer zu ihren Arbeitsplätzen fahren), Nahrungsmittel, Heizung, Telefon, Strom und Wasser, Fachliteratur, Fortbildungskosten, Einrichtungsgegenstände werden aus der gemeinsamen Kasse bezahlt.

Zu Frühstück und Mittagessen versammeln sich alle im Speiseraum, zum Abendessen setzt sich jede Familie an ihren eigenen Eßtisch. Diese auch in den meisten anderen Familien einzige Gelegenheit am Tag, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen, wird dort bewußt wahrgenommen. Die Buchhalterin arbeitet nur halbtags in ihrem Beruf und ist im übrigen für die Wäsche verantwortlich. Das Mittagessen kocht eine Hauswirtschaftsleiterin, die um der Nähe zur Gruppe willen ins Dorf gezogen ist. Den Abwasch besorgen die Familien (also auch die Kinder) reihum.

Solche Art gemeinsamen Lebens fordert ein hohes Maß an Großzügigkeit und Rücksicht. Jeder muß zugleich gönnen können und bescheiden sein. „Wer aufrechnet, ist verloren“, sagt Paulander Hausmann, Jurist und Friedensforscher, Hausgenosse und Vorsitzender des Laurentiuskonvents (dem übrigens nur drei der zehn erwachsenen Hausbewohner als Mitglieder angehören). Alle organisatorischen Fragen, die sich aus dem Zusammenleben ergeben, werden gemeinsam gelöst. Kein Prior teilt das Geld ein, kein Vorsitzender hat das letzte Wort. In einer wöchentlichen „Technikbesprechung“ werden alle Fragen gemeinsam und partnerschaftlich diskutiert.

Die Verdienstgemeinschaft wird sich im Laufe der Zeit zwangsläufig auch zu einer Gütergemeinschaft entwickeln, weil ja alle Anschaffungen aus der gemeinsamen Kasse finanziert werden. Dies bringt die Gruppe in die Nähe klösterlicher Ordenstraditionen und ist ein äußeres Zeichen dafür, daß sich Menschen aufeinander eingelassen haben. Denn jeder bringt mehr als seinen Verdienst, nämlich sich selbst, ein. Musische , erzieherische, intellektuelle Begabungen können für alle fruchtbar gemacht werden. Alleinstehende und Kleinfamilien überwinden die Isolierung, Kommunikation wird gefördert, Gemeinschaft auch im Alltag der Christen ermöglicht. Und: „Dadurch, daß einige von uns teilweise von der Berufsarbeit im herkömmlichen Sinn freigestellt werden konnten, hat sich ein Gewinn an Zeit ergeben, der nun in den Aufbau des Gesamtobjektes einfließt“, erläutert der Arzt Peter Boppel, der den größten finanziellen „Brocken“ einbringt.

Obwohl das vorher nicht so eingeplant war, hat sich für die Wohngemeinschaft in Wethen eine Fülle von Aufgaben ergeben:

Der Theologe Wolfgang Kelm, de um des Laienkonvents willen seit 1959 sein Pfarramt nicht mehr ausgeübt hatte, wurde vom Dorf gefragt, ob er nicht ihr Pastor werden wolle. Nach der Eingemeindung Wethens in das künstliche Gebilde Diemelstadt drohte dem traditionsreichen Dorf, dessen von Ritter Udo v. Wethen gestiftete St.-Paulus-Kirche aus dem 13. Jahrhundert stammt, auch die kirchliche Selbständigkeit abhanden zu kommen. Der Pastor ging in den Ruhestand, und die rund 400 Evangelischen sollten vom Nachbarpfarrer mitbetreut werden. Wolfgang Kelm zog wieder den Talar an und ist nun „halbe Gemeindepastor“. Eine Lösung, die sowohl der Gemeinde als auch ihm entspricht. So bleibt ihm Zeit für andere Aufgaben. Zugleich ist eine Verbindung zwischen Neusiedlern und Altbürgen geschaffen.

Der Kirche unmittelbar benachbart ist die alte Schule, die der Konvent gekauft hat. Dort betreut Ragnhild Hausmann jeden Vormittag einen Spielkreis vier- bis sechsjähriger Kinder, weil Eltern aus dem Dorfe darum gebeten hatten: Der nächste Kindergarten ist mehrere Kilometer entfernt, also nur mit dem Auto zu erreichen. Der Spielkreis ist ein Dienst am Dorf. In de Schule hat die mit dem Konvent verbundene „Ökumenische Förderergemeinschaft für soziale Dienste/Kinder in Not e.V.“ ihr Büro.

Ein kleiner Betrieb im Dorf, der Maßbademäntel herstellt, sollte vom Besitzer, der sich zur Ruhe setzen wollte, geschlossen werden. Ohnehin knappe Arbeitsplätze waren in Gefahr. Seitdem werden die Bademäntel auf dem Laurentiushof hergestellt. So haben die Näherinnen ihre Arbeit behalten. Der Friedensforscher Paulander Hausmann, an handwerkliche Arbeit bisher nicht gewohnt, hat die Firmenleitung übernommen: Dienstags abends besucht er in der Volkshochschule Warburg einen Zuschneidekurs.

Einen Raum für Fest und Gespräch, Information und Austausch, gemeinsames Festessen und zum Feiern gestaltete sich die Gruppe im ehemaligen Schafstall. Und das frühere Backhaus im Hof dient nun der Meditation, der Andacht, der Besinnung. Von Gründonnerstag bis Ostern vorigen Jahres wechselten sich Hausbewohner und Gäste in der Backhauskapelle bei der Nachtwachenstafette ab; jeder hatte sich verpflichtet, eine Stunde zu wachen – bis zum Beginn der Osternachtfeier am Sonntagmorgen um vier Uhr.

Der Laurentiushof ist schon zu einer „Pilgerstätte“ geworden. Besucher kommen, einzeln und in Gruppen, und erwarten vielleicht etwas Sensationelles. Dies kann der Hof nicht bieten. Hier wollen Menschen gemeinsam leben. Diesen Versuch aber muß man miterleben, um ihn kennenzulernen. Darum wurde ein Gästehaus gemietet – ein altes Bauernhaus, das in Eigenarbeit zu einer „Schalom-Werkstatt“ umgebaut worden ist. Dort können Gruppen selbst gemeinsames Leben ausprobieren und an Impulsen aus dem Laurentiushof teilhaben, Mitglieder der Wohngemeinschaft zu Gesprächen einladen. An oberflächlichem Interesse, an Publicity, ist der Wohngemeinschaft allerdings nicht gelegen.